Gegenwehr

Szenarien für Moskau: Wie geht es weiter?

Am Samstagabend haben parallel zur Großdemonstration in Russland auch vor der russischen Botschaft in Berlin mehrere hundert Russen gegen Wladimir Putin und den aufgedeckten Wahlbetrug bei den Parlamentswahlen demonstriert. Doch warum griff die Polizei in Russland diesmal nicht ein? Stefan Melle, Geschäftsführer des Vereins Deutsch-Russischer Austausch e.V., benennt fünf mögliche Gründe.

Wie Stefan Melle, Geschäftsführer des Vereins Deutsch-Russischer Austausch e.V. (DRA), berichtet, zogen etwa 500 Demonstrierende – hauptsächlich junge Russen, die in Deutschland leben – von der russischen Botschaft bis zum  Brandenburger Tor und zum Reichstag.

Forderung nach Neuwahlen in Russland vor dem Brandenburger Tor. (Foto: DRA)

Melle beschreibt die Atmosphäre der Demonstration in Berlin rückblickend als „sehr lebendig“ und von „Aufbruchsstimmung“ geprägt. Diese sei „auch von dem Wissen getragen“ worden, dass an diesem Tag in Moskau „allein mindestens 50.000 Teilnehmer auf der Straße waren und die Polizei dabei endlich auf Gewalt verzichtete“. Auch in den meisten anderen russischen Städten von Wladiwostok bis Sankt Petersburg gingen die Menschen auf die Straße. Melle deutet den Tag, den 10.12.2011, als einen „historischen Moment für Russland, seine Menschen, seine Zivilgesellschaft“.

Anfang vom Ende wie in der DDR?

Dafür, dass die Polizei nicht – wie sonst zuvor geschehen – mit teils brutaler Gewalt eingriff und auch das russische Fernsehen, welches die Proteste bislang weitestgehend ignoriert hatte, am Samstagabend „offen und ziemlich ausgewogen, sogar mit gewisser Sympathie über die Demonstrationen berichtete“, lässt laut Melle mehrere verschiedene Deutungsarten zu. Für ihn gibt es fünf mögliche Szenarien, die dazu geführt haben- und welche die Zukunft weiter bestimmen könnten. Erstens könnte dies der „Tag des Wechsels“ gewesen sein, „wie in der DDR der 9.10.1989, als erstmals die Montagsdemos nicht zerschlagen wurde. […] Danach hatte dauerte es nur noch wenige Wochen, bis die SED-Herrschaft zerbröselte“. Auch wenn er diese Möglichkeit für „wenig wahrscheinlich“ hält, sei sie zumindest „denkbar“.

Eine zweite diskutable Lesart der Ereignisse sei, so Melle weiter, dass „Journalisten und Polizei es satt haben, sich gegen das Volk – die eigenen Leute – und das eigene Gewissen zu stellen“ und nun „ihren eigenen, neuen Stil wagen“. Man könne zudem „vermuten, dass die Wahlfälschungen für viele das Maß voll gemacht haben, selbst in sonst loyalen Strukturen.“ Gleichzeitig jedoch stellt Melle fest: „Aber noch gibt es in Russland kein unabhängiges Fernsehen und keine Polizei, die etwas anderes tut, als ihr gesagt wird.“

Eigene Anhänger nicht verprellen

Russisches Fernsehbild über die Wahldemos (Foto: DRA)

Als dritte Eventualität sieht der Vereinsgeschäftsführer in seiner Analyse taktische Beweggründe der Regierung: „Das Tandem und ihre Administration haben verstanden, dass sie diese große Bewegung derzeit nicht niederschlagen können. Darum versuchen sie, die Proteste bis zu den Neujahrsferien freundlicher zu stimmen, abzukühlen, durch Zurückhaltung die Eskalation und damit Mobilisierung herauszunehmen. Ihr Hauptziel ist jetzt gewiss, die Präsidentenwahlen zu gewinnen – das dürfte ihnen in jedem Fall gelingen, auch wenn die Reserviertheit der Bevölkerung gegenüber Putin wächst“. Es fehle leider an überzeugenden Gegenkandidaten.

Um seine eigenen Anhänger bis zum Tag der Wahlen am 04.03.2012 nicht zu verprellen, werde möglicherweise eine „quasiliberale“ Stimmung vorgespiegelt. Eventuell müsse der Leiter der Föderalen Wahlkommission, Churov, „als Sündenbock herhalten, und könnte auf irgendein anderes tröstliches Amt abgeschoben werden, damit er nicht zu früh redet.“ Möglicherweise würden auch einige der drastischsten Fälschungen zugegeben bzw. Fälscher verurteilt, aber, so Melle, „kaum das System im Ganzen“.

Echte Reformen in Russland unwahrscheinlich

Die Demos haben ihre eigenen Symbole entwickelt: weiße Schleife in Russland, in Berlin auch: weißes Blatt. (Foto: DRA)

Eine vierte denkbare Option sei, dass Putin und seine Mitstreiter tatsächlich „eingesehen“ hätten, „dass sie undemokratisch verfahren sind“ und nun „bereuen wollen, Reformen, das Wahlrecht sichern, Fälschungen aufdecken, die verhafteten Oppositionellen freilassen, überhaupt den Weg zur Demokratisierung freimachen.“ Allerdings schränkt Melle diese Möglichkeit sofort selbst ein: „Leider gar nicht wahrscheinlich“ und zieht erneut den Vergleich zum Ende der DDR: „Das wäre so wie Erich Mielkes ‚Ich liebe euch doch alle‘ 1989.“

Eine fünfte und schließlich letzte denkbare Variante, die „bisher aber nicht zu sehen“ sei, bestehe darin, dass Putin „echten Widerspruch in den eigenen Reihen gefunden hat, der ihn bewegen konnte, sich jetzt erstmal zurückzunehmen, und deren Vertreter später sogar mal als Übergangsteam auftreten könnte, wenn es um einen für ihn gefahrlosen Abgang geht.“

Wie lange dieser frische Geist der Demonstrationen anhält, hänge nun „von ihrer Dringlichkeit ab, aber auch davon, ob die Reaktion der Regierung Platz für solche Aktionen, für das Nachdenken über Veränderungen zulässt oder aber auf Eskalation und Überwältigung setzt“.

 

Kommentare

Schreibe den ersten Kommentar für diesen Artikel.

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

*